Im Kontakt mit dem Lebendigen
Soeben habe ich meinen Sohn Arthur (anderthalb Jahre) in die Krippe gebracht. Plötzlich wieder Zeit für mich. Der Berg der Do To-Liste in meinem Kopf ist auf eine unbezwingbare Größe angewachsen, sodass ich im Grunde schnell schnell alles abarbeiten müsste. Doch heute streikt mein Gefühl, mein Wesen und mein Körper haben andere Bedürfnisse und spontane Ideen. Ich fühle mich ein wenig einsam, etwas verloren in all dem zu Tun, noch nicht ganz im Tag gelandet und nicht im Kontakt mit meinem Kern. Auf dem Rückweg habe ich den Impuls bei Göing auf der Limmerstraße einen Kaffee zu trinken. Obwohl ich versuche dieses Getränk zu vermeiden, da ich noch stille und somit das Koffein zu Arthur gelangt, gestatte ich mir dies nicht so oft. Aber heute sollte er sein, der Kaffee mit mir selbst, bei dem ich innehalte und in diese Welt blicke, in der ich wirke. So wichtig ist dies in meiner Arbeit, den Kontakt zum Lebendigen immer wieder zu spüren – zu fühlen, um was es eigentlich bei unserem „Resonanzeffekt“ geht.
Und schon geht es los: Ein schick gekleidetes Pärchen sitzt mir gegenüber, bespricht beim Frühstück mit ihrem Baby im Hochstuhl die Wochenpläne. Ich frage die Frau, ob ich ihr meine Karte geben kann, als sie im Begriff ist, zu gehen. Sie lächelt, freut sich offensichtlich über mein Kompliment und die Aufmerksamkeit, die ich ihr schenke.
Plötzlich sitzt Ashraf mit seinem Cappuccino und Puddingteilchen neben mir und spricht mich an, strahlt übers ganze Gesicht. Er hat Pause bei Göing, eben hatte er mich noch bedient. Er wirkt attraktiv und spricht fast perfekt deutsch. Seine Ausstrahlung überrascht mich und freut mich. Denn zugegeben sehe ich auch viele verschleierte, unglückliche Gesichter Tag für Tag vor meiner Limmerstraßen-Haustür. Er sagt, dass er viele junge Menschen in Deutschland als sehr offen empfindet, sie strahlen und lachen ihn an, wenn er sie bedient. Dies sei in seiner Heimat nicht unbedingt so. Ich mache ihm ein Kompliment, wie genial er Deutsch spricht und wir tauschen uns darüber aus, wie bedeutsam es ist, die Sprache des Landes, in dem ich lebe, anzunehmen und zu beherrschen. Er empfindet dies als seinen persönlichen Dank dafür, dass ihn dieses Land aufgenommen hat.
Ich frage ein wenig nach, bin neugierig und auch vorsichtig. Nicht jeder, der in Deutschland landet, möchte vielleicht gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählen, denke ich. Aber Ashraf erzählt. Er kam vor 2,5 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Er ließ alles zurück, Freunde, Familie, seine Kindheit, seine Heimat. Er kam hier her um diese Möglichkeiten zu leben, die es hier gibt, versucht, hier weiter zu studieren. Alle Details warum er sich so entschlossen hat, erfahre ich nicht.
Wir unterhalten uns eine Weile über seine Studiumsmöglichkeiten. Wie schwer es ist, hier eine Anerkennung seiner 4 Semester Umweltingenieurswesen zu bekommen. Er besitzt C1 Niveau Englisch und hat in seiner Heimat als Dolmetscher gearbeitet. Dennoch sei es kompliziert hier einen Studienplatz zu finden, auf Englisch gibt es ihn nicht an der Leipniz-Uni, auf Deutsch möchte er am liebsten studieren, wird aber aktuell noch nicht zugelassen, er wird geprüft. Er spreche noch nicht die Studiensprache; so die Studiendekanin. Ich schlucke.
Ashraf sagt, es ist schwierig, hier in Deutschland Freunde zu finden. Dabei wird sein Gesicht traurig und ich spüre seine Einsamkeit. Sein ganzer Ausdruck verändert sich von einem Moment auf den anderen.
Dann lacht er wieder und sagt etwas Wichtiges über die jungen Leute in Deutschland: Die jungen Leute sind hier seien so gelassen! Also sei er es auch geworden und würde sich nicht mehr so stressen – wie noch in seiner Heimat, wo er immer unter Strom stand, wo es so schwer war, Englisch zu lernen, er so viel investieren musste, jeden Tag. Hier empfindet er vieles als viel einfacher: Er selbst hat sich Deutsch vor allem mithilfe von Apps beigebracht. Er sei hier fast auf eine Weise faul geworden, lacht er, in seiner Heimat hätte er hingegen nur hart gearbeitet.
Ashraf sagt, er habe bemerkt, dass er unendlich viele Möglichkeiten habe, sein Leben zu gestalten. Und was würden die jungen Leute hier machen: „Sie verschwenden ihre Zeit – anstatt all ihre Möglichkeiten auszuschöpfen! Sie sehen es nicht mehr, weil sie ihre Bequemlichkeit, ihren Lebensstatus zu sehr als selbstverständlich empfinden.“ Diese Sichtweise finde ich extrem spannend.
Es ist jedoch auch schwer, hier die für ihn passende Arbeit zu finden, denn es bestehe wiederum überall ein hoher Anspruch, die Arbeit finde sich nicht so niedrigschwellig. Der Anspruch gefalle ihm, aber der Kapitalismus überhaupt nicht, alle bräuchten nur seine Arbeitskraft, sonst nichts von ihm. Als Mensch zähle er nicht.
Da ihm seine Kollegin einen komischen Blick zuwirft, frage ich ihn, ob seine Pause vorbei ist. Er antwortet „Noch nicht.. Jeder zieht hier alleine seinen Job durch“ und wird ernst, es klingt fast wie ein Mantra, das nicht zu ihm passt.
Ich danke Ashraf, denn er erinnerte mich heute an den Kern meiner Arbeit: Menschen zu erinnern, dass der Wohlstand und die Sicherheit, in denen wir aktuell in Deutschland leben, die stille Verpflichtung beinhalten, seine innere Kraft zur Verfügung zu stellen. Und zwar die Kraft, die die inneren Steine wegschafft und die hinsieht! Die Kraft, die die inneren Baustellen aufräumt und wach in die Welt geht und so inneren und äußeren Frieden schafft.
Sich zu erinnern, sich zu verbinden von Mensch zu Mensch, berührt sein und die eigene Sehnsucht spüren. Jeder an dem Punkt, an dem er/sie steht. Gemeinschaften leben unter Menschen, sich nicht nur dem Geld- und Besitzdenken unterwerfen, sondern spüren: worum geht es im Menschsein? Somit in die Zukunft schreiten.
Die eigene Aufgabe sehen – auf der Basis, auf der ich lebe. Wenn ich nicht für mein Überleben und meine Familie kämpfen muss, was ist dann meine Aufgabe? Das gilt es für die junge Generation in Deutschland komplett neu zu entdecken, zu gestalten. Und es dann zu tun!
Ashraf erinnerte mich heute morgen daran, was für mich Spätherbst und Advent, die stille Zeit für uns bereithält: Innehalten mit uns selbst, Augen öffnen für den Menschen neben mir.
Das, was wir bei Resonanzeffekt machen heißt: Werde der Mensch der du im Innern bist. Werde menschlich. Verbinde dich und vertraue dich an. Da draußen sind so viele schöne Menschen, die dich brauchen in deiner Kraft. Wenn wir das alle tun, an dem Punkt, an dem wir jetzt sind, wird alles gut. Wenn wir von diesem Punkt aus gestalten. Dann leben wir als Mensch unter Menschen und sind im Kontakt mit dem, was JETZT in und um uns lebendig ist. Die Aufgaben liegen direkt vor unserer Nase.